Respekt! Nura hat den Kopfhörer grundsätzlich infrage gestellt und wartet an entscheidenden Stellen mit neuen Ansätzen auf. Herausragend ist dabei die Möglichkeit der Anpassung an den persönlichen Hörapparat mithilfe einer Auswertung otoakustischer Emissionen. Hier greift der Hersteller einen überaus interessanten und sinnvollen Ansatz auf, und setzt das zugehörige Produkt mit absolut beachtlicher Präzision und Liebe zum Detail um. Hier gehen innovative Technik und ausgewogener Klang Hand in Hand, etwas Detailarbeit im Handling sind aber noch nötig.
Der australische Hersteller Nura, eine Gruppe von Wissenschaftlern und Musikliebhabern, hat mit einem Kickstarter-Projekt 2016 eine ambitionierte Idee verwirklicht, die es inzwischen zur Serienreife geschafft hat. Beim Nuraphone handelt es sich um ein neuartiges Kopfhörerkonzept, das die Vorteile von In-Ear- und Over-Ear-Konstruktionen vereinen soll. Darüber hinaus sorgt ein interner Signalprozessor in Kombination mit Meßmikrofonen für eine Klanganpassung auf Basis des eigenen Hörapparats. Und seit dem aktuellen, kostenlosen Update G2 gehört sogar auch aktives Noise Cancelling in die Ausstattungsliste.
Rundgang
Schon die Konstruktion des Nuraphone ist ungewöhnlich: Der Kopfhörer nutzt geschlossene Ohrmuscheln, in denen sich In-Ears verbergen, die über drei Ohrstöpsel passgenau im Gehörgang platziert werden – „Inova“ nennt der Hersteller das. Die Konstruktion arbeitet mit einem eingebauten Lithium-Ionen-Akku, der für den Betrieb grundsätzlich erforderlich ist. Er bietet eine Laufzeit von 20 Stunden bei dreistündiger Ladezeit. Der Standardübertragungsweg läuft über den Bluetooth-Codec aptX HD. Es lässt sich aber auch über kostenpflichtige Adapter per analogen Anschlüssen, Lightning, USB-C oder micro-USB kommunizieren. Auch bei Nutzung des analogen Kabels muss der Nuraphone aufgeladen sein, denn seine Elektronik (und Wandlung) braucht eben immer Strom.
Die Verarbeitung ist hochwertig, ebenso das schmucke Transportcase mit Magnetverschluss. Die leichtgewichtige Konstruktion setzt auf einen gepolsterten verstellbaren Kopfbügel aus Aluminium und Ohrmuscheln aus Silikon. Damit eine Luftzufuhr unter dieser „zweiten Haut“ gewährleistet wird, befinden sich zahlreiche Lüftungsschlitze um den Ohrmuscheln, die in Interaktion mit der Musik kühlende Außenluft geräuschlos über sogenannte Teslaventile nach innen führen. Der Nuraphone verfügt pro Seite über zwei Außen- und ein Innenmikrofon. Zudem sind an den Befestigungspunkten der Ohrmuscheln berührungsempfindliche Sensorpunkte für eine Funktionssteuerung vorgesehen.
Anpassung an das eigene Ohr
Der Nuraphone ist nicht der erste Kopfhörer, der mit einer Anpassung des Frequenzgangs an das eigene Ohr wirbt. Es ist aber das erste Gerät, das sogenannte otoakustische Emissionen auswertet. Der Hintergrund ist erstaunlich, denn er beruht auf der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass das Ohr beim Hören selbst Schallwellen abgibt. Diese sind abhängig von den eingehenden Frequenzen und Pegeln, aber keinesfalls mit diesen identisch. Sie sind vielmehr das Ergebnis einer Modulation der Haarzellen im Innenohr, die sich durch eingehende Frequenzen ergibt und die ihrerseits das Trommelfell zum Schwingen bringen.
Otoakustische Emissionen fallen um circa 80 dB leiser als die eingehenden Signale aus. Sie wurden erst in den Siebzigern nachgewiesen, obwohl man ihre Existenz vorausberechnet hatte. In der Praxis sind sie heute in Krankenhäusern bei Hörtests für Säuglinge ein wichtiger Messfaktor. Im Nuraphone arbeitet das Verfahren allerdings in deutlich verfeinerter Form: Als Antwort auf eine Reihe von Testsignalen werden die otoakustischen Emissionen über extrem empfindliche Mikrofone im Hörkanal aufgefangen und ausgewertet. Der persönliche Hörapparat wird hier analysiert und in der Folge linearisiert. Mit diesem Ansatz adressiert Nura einen Umstand, den Kopfhörer aus Serienfertigung unberücksichtigt lassen: die Individualität des Hörapparats. Neben lärm- und altersbedingten Degradierungen in bestimmten Frequenzbereichen verarbeitet jeder Mensch Schall aufgrund seiner spezifischen Ohrform auf individuelle Art und Weise.
Praxis
Aufgrund des speziellen Ansatzes ist eine Personalisierung des Kopfhörers unabdingbar. Sie dauert nur wenige Minuten. Hierzu lädt man sich die zugehörige kostenlose iOS/Android-App auf sein Smartphone und legt ein Nutzerkonto beim Hersteller an. Nach dem Pairing wird man nun auf freundliche Weise durch die Anpassung geleitet. Statt simpler Testtöne, deren Hörbarkeit man dem System manuell mitteilt, fangen die Messmikrofone im Nuraphone die otoakustischen Emissionen als Antwort auf eingespeiste Testtöne selbst auf. Man braucht die Messung lediglich in ruhiger Umgebung durchführen, wobei die App auch Rückmeldungen über den richtigen Außen- und Innensitz des Nuraphones gibt, der für eine erfolgreiche Messung unverzichtbar ist. Der eigentliche Messvorgang dauert etwa eine Minute und besteht aus einer Reihe von Testtönen. Resultat ist eine individuelle Hörkurve, die automatisch linearisiert wird und sich nicht weiter verändern lässt. Bis zu drei dieser Profile lassen sich in der App speichern, um schnell zwischen unterschiedlichen Hörern wechseln zu können. Das Hörprofil selbst wird in Form einer Grafik abgebildet, die die eigene Hörsensibilität bei bestimmten Frequenzen in einem Kreisdiagramm zeigt.
Fortan ist der Nuraphone personalisiert. Dieser Modus lässt sich zwar ausschalten, was aufgrund der Konstruktion mit den zu Messzwecken optimiert platzierten Mikrofonen nicht zu befriedigen Ergebnissen führt.
Des Weiteren schaltbar sind das aktive Noise Cancelling und der Social Mode. Hierzu später mehr. Stufenlos regelbar ist hingegen der sogenannte Immersion-Modus, der ebenfalls einer näheren Erklärung bedarf: Neben den klanggebenden In-Ear-Treibern arbeiten im Nuraphone ergänzende 40-mm-Treiber in den Ohrmuscheln, die nicht wirklich aktiv auf das Trommelfell wirken, sondern für eine regelbare Anregung des Außenohrs und damit für ein zusätzliches Empfinden tiefer Frequenzen auf der Haut sorgen. Dieser gefühlte Bassanteil ist nach Geschmack regelbar und reicht von einer angenehmen leichten Bassanhebung für zusätzliches Druckgefühl bis hin zu heillos übertriebenem Basschaos. In der Regel habe ich diesen Parameter maximal zu einem Viertel hochgedreht, abhängig von der Wiedergabelautstärke. Die Einstellungen der App werden sinnvollerweise im Kopfhörer gespeichert und somit ist man nicht ständig auf ein Smartphone angewiesen.
Der Sitz des Kopfhörers ist zunächst aufgrund der Konstruktion aber auch wegen des Materials etwas gewöhnungsbedürftig. Letztlich ergibt sich jedoch ein guter Tragekomfort, auch über längere Zeit. An den warmen Tagen dieses Sommers reichte die Ventilierung allerdings nicht aus, so dass ich unter dem Ohr zu schwitzen begann. Kurz: Gänzlich überzeugt mich Silikon nicht als Material der Wahl.
In der weiteren Praxis punktet der Nuraphone durch einen ungewohnten Komfort: Beim Aufsetzen schaltet sich der Hörer automatisch ein und reaktiviert selbstständig ein zuvor vorhandenes Pairing, informiert über den Akkustand und startet sogar die Musikwiedergabe. Prinzipiell ist sogar ein Pairing mit unterschiedlichen Empfängern mit schneller Umschaltung möglich. Ein automatisches Abschalten beim Absetzen soll den Akku schonen. Das klappt oft, aber nicht immer. Gleiches gilt auch für das schnelle Pairing. Abhängig von der Startreihenfolge von Musikwiedergabe und iOS-App kam es teils zu Unterbrechungen in der Wiedergabe, die sich nur durch ein Ein- und Ausschalten von Bluetooth im iPhone beheben ließen. Hier sollte der Hersteller also noch nachbessern.
Die Sensorik gestattet pro Ohrmuschel eigene Funktionen für Einfach- und Doppelklick, die über die App definiert werden. Regelvorgänge durch Wischen sind hingegen nicht vorgesehen. So lassen sich Playback-Funktionen, die Annahme sowie das Beenden von Telefonaten, die übrigens mit guter Sprachqualität erfolgen, das Schalten der Noise-Cancelling-Funktionen programmieren, aber auch eine Lautstärkesteuerung durch Klick und Doppelklick ist möglich. Dennoch gibt es auch Tadel: Jedes Auslösen einer Funktion geht mit einem nicht abschaltbaren Klick einher. Dazu löste ich beim Berühren der Ohrmuscheln immer wieder versehentlich Funktionen aus. Hier darf man allerdings auf ein offenes Ohr der Hersteller hoffen. Immerhin ist der Nuraphone funktional updatebar. Dies hat der Hersteller eindrucksvoll mit der Version G2 unter Beweis gestellt, die dem Nuraphone kurzerhand ein aktives Noise Cancelling spendiert – völlig kostenlos!
Noise Cancelling
Die passive Geräuschdämmung des Kopfhörers nach innen und außen ist aufgrund der Inova-Konstruktion bereits ziemlich effektiv und wirkt im Bereich der mittleren und hohen Frequenzen sogar oft besser als dies bei etablierten ANC-Mitbewerbern der Fall ist. Das Update ergänzt nun ein zusätzliches aktives Noise Cancelling, dessen Wirkung wie üblich auf tieffrequente Signale optimiert wurde. Die Dämmung ist lediglich zuschaltbar und erreicht in der Praxis eine effektive Minderung von Außengeräuschen. Verkehrsgeräusche aber auch Sprachgeräusche in der Umgebung werden weit in den Hintergrund gedrängt, so dass die Musik deutlicher hervortritt. Gleichwohl reicht der Nuraphone in diesem Bereich nicht an die Spitzenreiter der Branche heran, die noch höhere Dämpfungswerte erreichen und teils situationsabhängig und mit umgebungsabhängiger Umschaltung arbeiten. Nichtsdestotrotz sorgt das Noise Cancelling in lauter Umgebung für eine klare Verbesserung der Intimität und erhöht damit den Fokus auf die Musikwiedergabe.
Praktisch ist der sogenannte Social Mode, der die Außenmikrofone nutzt, um Umweltgeräusche wieder einzublenden, was insbesondere bei der Kommunikation und im öffentlichen Verkehr absolut sinnvoll ist. Idealerweise legt man diese Betriebsart auf eine Touchfunktion. Dabei wird der Musikklang im Pegel leicht reduziert und Außengeräusche ans Ohr durchgelassen.
Klang
Die Klangbeurteilung des Nuraphone muss bei eingeschalteter Personalisierung erfolgen, denn nur so spielt der Kopfhörer seine wahren Stärken aus. Das Klangergebnis ist dazu abhängig vom Grad des Immersion-Parameters. Eine völlige Neutralstellung gibt es also eher nicht. Gleichwohl ist das Klangergebnis beeindruckend. Der Nuraphone überzeugt insbesondere durch seine schöne Transparenz und Detailabbildung, die nicht nur Instrumente und Stimmen, sondern auch das Stereopanorama und die Raumabbildung herrlich zeichnet und die Elemente gleichzeitig stimmig miteinander spielen lässt – eine gute Mischung vorausgesetzt. Der Kopfhörer ist ausgewogen und zumindest bei niedrigen Immersive-Werten recht neutral im Frequenzgang. Für etwas Druck im Bassbereich ist es zumindest abseits stiller Hörumgebungen sinnvoll, den Immersive-Regler leicht hoch zu regeln.
Apropos Bass: Der gesamte Bassbereich bis in die tiefsten Register ist präsent, mitsamt Dynamik, Kontur und nachvollziehbarer Tonalität.
Die Mitten behalten den Detailreichtum bei, liefern eine hohe Sprachverständlichkeit und verzichten auf Überbetonungen. Auch im Bereich der Höhen klingt es nie hart, dafür aber schnell, offen und luftig. Ein rundum stimmiges Ergebnis, mit dem der Kopfhörer seinen Preis von knapp 400 Euro abseits der technischen Innovation rechtfertigt. Ich würde dem Nuraphone dabei eine genreübergreifende Eignung attestieren: Die Reproduktion klassischer dynamischer Orchesteraufnahmen gelingt ebenso gut wie die Wiedergabe von Jazz-Trios, Rock oder Dance-Titeln. Einzig: Ein wirklich lauter Hörer ist der Nuraphone allerdings nicht.
Gleichzeitig würde ich den Nuraphone aber auch nicht als besten Kopfhörer am Markt oder seiner Preisklasse bezeichnen. Bekanntermaßen sind auch konventionellere Konstruktionen zu überzeugenden Leistungen fähig. Gleichwohl erhält die klangliche Oberklasse im Bereich der mobilen Konstruktionen hier einen ernstzunehmenden neuen Mitbewerber, der mit seinem frischen Ansatz für einigen Wirbel sorgen dürfte.
- 359,00 € *Zum Angebot
Technische Daten
- BauformOver-Ear & In-Ear
- Bauweisegeschlossen
- Wandlerprinzipdynamisch
- Gewicht ohne Kabel329 g
- Kabellänge120 cm
Lieferumfang
- USB-Ladekabel
- Transportcase
Besonderheiten
- BT-Codec: aptX HD
- optionale Kabel erhältlich: USB-A, USB-C, Micro-USB, Lightning, (analoges) Miniklinkenkabel